Wenn es wirklich einen liebenden Gott geben sollte, dann wird er uns nicht unter Sanktionen stellen. Er wird uns lieben, wie wir sind, wird nicht Gehorsam von uns verlangen, wird sich nicht verunsichern lassen durch Kritik, wird uns nicht mit der Hölle drohen, uns nicht Angst machen, unsere Treue nicht auf die Probe stellen, wird uns nicht mißtrauen, wird uns unsere Gefühle und Triebe leben lassen -- im Vertrauen darauf, daß wir gerade auf diesem Boden fähig sein werden, starke und echte Liebe zu lernen, eine Liebe, die das Gegenteil ist von Pflichterfüllung und Gehorsam und nur aus der Erfahrung des Geliebtwerdens wächst. Zur Liebe kann man ein Kind nicht erziehen, weder mit Schlägen noch mit gutmeinenden Worten; keine Ermahnungen, Predigten, Erklärungen, Vorbilder, Drohungen, Sanktionen können ein Kind liebesfähig machen. Ein Kind, dem man predigt, lernt nur predigen, und ein Kind das man schlägt, lernt schlagen. Erziehen kann man einen Menschen zu einem guten Bürger, zu einem tapferen Soldaten, zu einem frommen Juden, Katholiken, Protestanten, Atheisten, ja sogar zu einem frommen Psychoanalytiker, nicht aber zu einem lebendigen und freien Menschen. Und nur das letztere, Lebendigkeit und Freiheit, nicht aber erzieherische Zwänge, öffnet die Quelle der echten Liebesfähigkeit.
Alice Miller
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